Bayern wird Meister

Ein blendender Tag im Mai. Als ich mich aus dem Bett geschält hatte, endlich die Wohnung verließ, flüsterte der warme Wind, sprangen die Vögel in den kleinen Sträuchern der Straße, und ich war überrascht und fragte mich bei jedem neuen Schritt, was er mir offenbaren würde. Der Scheinwerfer Sonne leuchtete jeden Winkel der Straßen aus wie als Generalprobe für das, was noch kommen sollte. Aus dem U-Bahnhof drangen bereits Gesänge aus heiseren Männerkehlen. Samstag, ach ja, richtig. Heute ist der letzte Spieltag. Ich bog um die Ecke, etwa 30 Fans standen vor einem Fahrkartenautomaten. Ich stieg ohne Karte in den Zug. Immer wieder passiert es mir, Punkt elf am Marienplatz zu sein. Die Tourimassen warten aufs Glockenspiel, dazu stehen heute noch versprengte Fußballfans, und zu allem Überfluß läßt sich die CSU die Gelegenheit nicht entgehen, ein bißchen Wahlpropaganda unters Volk zu bringen.

Die Turnschuhe der Fußballfans traten über Kopfsteinpflaster, Wahlkampfparolen, Bierdosen, einer fiel hin, ein anderer half ihm auf, drei lagen sich in den Armen, "deutscher Meister wird nur der FCB". Aus ganz Deutschland sind sie angereist. Noch vier Stunden bis zum Spiel, die Stadt ist voll mit roten Schals, rot-weiß-blaue Trikots halten so manchen Bauch zusammen. Die Fans verteilen sich flächendeckend über meine Stadt, ziehen sich Bierdosen auf, singen, wann geht das Spiel endlich los. Sie sitzen in U-Bahnen, Straßenbahnen, Bussen, laufen die Bürgersteige auf und ab in planlosen Bewegungen. Noch lohnt es sich nicht, schon ins Stadion zu fahren. Auf dem Weg zurück in meine Wohnung sehe ich sie überall, vor Schaufenstern und in Telefonzellen, auf Parkbänken und an Haltestellen. Sie warten sie trinken sie singen sie sind zuversichtlich sie werden siegen. Bayern wird Meister, daran zweifelt niemand. Das Spiel ist seit Monaten ausverkauft.

Früher war ich auch oft im Stadion, aber für den Fanblock unter der Anzeigetafel in der Südkurve hat meine Stimmgewalt nie ausgereicht. Ich hatte auch nie ein Bayerntrikot. Obwohl die Bayern immer schon mein Verein waren, habe ich mich niemals eins mit den Fans gefühlt. Mit der Zeit fand ich das Gemisch aus Schreien, Schweiß und Suff auf den Tribünen immer ekelhafter. Und doch ist da irgendetwas, um das ich die Fans beneide, ihre kompromißlose Anhängerschaft, ihre Einheitlichkeit und Unmittelbarkeit. Sie müssen nicht über sich nachdenken, sie sind hier in ihrer Eigenschaft als Bayernfans, und sonst eben nichts, heute am 34. Spieltag der Fußballbundesliga. Bayern wird Meister.

Die meisten Leute sind der Meinung, das sei völlig bedeutungslos, wenn da ein paar Spieler gegen einen Ball treten. Folglich sind sie nie in der Lage, diese überschwengliche Freude zu teilen. Muß man jeden Sieg selbst erringen, um sich darüber freuen zu können? Muß man überhaupt immer siegen? Die Fans stehen bei der Fahne auch in Niederlagen. Die Saison ist lang. Weißt du noch, damals, als die Bayern drei Spieltage vor Schluß noch vier Punkte, und am Ende doch noch... Und wenn sie es geschafft haben, singen die Fans, jubeln, fallen sich in die Arme. Ein Massenerlebnis, ein faschistoider Wahn? Oder einfach nur eine Freude an der Freude. Richtige Fußballfans können nur diejenigen Menschen werden, die schon als Kinder mit Hunden gespielt haben, mit ihnen gesprochen haben ohne sich dabei lächerlich vorzukommen, die nicht fortliefen und nicht gebissen wurden.

Noch zwei Stunden bis zum Anpfiff. Jetzt von einem Hubschrauber aus betrachten, wie die abertausende roten Punkte in der Stadt langsam in die große Schüssel Olympiastadion strömen. Oder unten im Stadion dabei sein, wenn der Schlußpfiff ertönt, wenn die Spieler die Arme hochreißen, Ehrenrunden laufen, zur Südkurve, und ihre Trikots in die jubelnde, ekstatische Menge werfen. Wenn noch minutenlang der Jubel anhält, bis dann die Meisterschale überreicht wird, und der Kapitän, der Trainer....

Aber ich habe heute nachmittag schon etwas vor. Auch am Abend, wenn auf dem Marienplatz gefeiert wird, werde ich nicht dabei sein. Natürlich werde ich mir tags darauf den Saisonrückblick anschauen und ein bißchen stolz sein bei jedem Tor, das ich früheren Sportschau-Spielen zuordnen kann. Aber ändern kann ich nichts daran: Ich bin endgültig dabei, dem Fußball zu entwachsen. Am Montag werden ich an den jubelnden Zeitungskästen vorbeigehen und seufzen, und dann ist alles bereits Vergangenheit.

09.05.1994


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