Letzte Nacht wurde ich im kleinen Zeuge eines großen ästhetischen Ereignisses.

Meine Nachttischlampe, ein kleiner, runder Halogenstrahler, ist so angebracht, daß sie von etwa dreißig Zentimetern aus auf die Wand zurückreflektiert und das Licht von dort aus in den Raum fällt.

Diese bestrahlte Wand nun zog einen Nachtfalter an, der zunächst gegen die Wand flog, aber je mehr er ins Helle drängte, spürte, daß es hinter ihm noch viel heller war und er zwischen zwei Lichtpolen gefangen war. Er schwirrte immer hektischer gegen die Wand hin und her, entfernte sich immer weiter von der Wand, bis er schließlich - zisch - in die Lampe fiel.

Nun geschah das Wunderbare. Mit einemmal verwandelte sich das hektische Hin- und Hergeschwirre in eine gerade kinetische Bahn, als ob jemand mit dem Finger in einer ganz ruhigen Halbkreisbewegung den Falter, oder was von ihm übrigblieb, auf den Teppich gesetzt hätte.

Dies erinnerte mich an den Absturz der Challenger, Ende der achtziger Jahre, wie auch da, nach der Explosion, die Teile plötzlich in unvermuteten, aber viel logischer anmutenden Bahnen als zuvor ihren Weg in den Himmel fortsetzten.

Und so erinnern mich die kleine Fliege und das große Raumschiff an einen Dirigenten, der, nach dem Tun und Treiben eines Violinkonzerts etwa, mit seiner Hand und dem Taktstock den letzten Ton ausstreicht.

19. Juni 1995


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