Schach

Eines Tages gefiel es dem Maler, den Baum aus der Erde zu befreien. So zog er langsam eine Wurzel nach der anderen aus dem Boden und setzte sie auf
Man Ray: Night Sun - Abandoned Playground, 1943
(c) Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2002
den Weg. Etwas unsicher begann der Baum zu laufen. Der Maler sah ihm belustigt nach.

Der Baum ließ die Wurzeln, die ihn am Laufen hinderten, auf dem Weg zurück und hatte so sein Gleichgewicht gefunden.Nun bewegte er sich so schnell, daß der Maler ihm kaum folgen konnte.

Er riß zwei Blätter von seinem Skizzenblock - da, jetzt hatte er ihn wieder eingeholt.

Der Baum hatte es sich auf einer Parkbank bequem gemacht. Es wurde Abend.

Der Maler setzte einen runden Mond auf das Papier.

Als die letzten Menschen den Park verlassen hatten, erhob sich der Baum und lief quer über die große Wiese. In einiger Entfernung sah er ein Schachbrett, das neben dem Kiosk in den Boden eingelassen war. Auf ihm stand nur eine einzige Figur.

Der Baum setzte sich neben das Spielfeld und fragte: ,,Wer bist du?"

"Ich bin der König", antwortete der andere stolz.

Der Baum überlegte einen Moment. ,,Und du bist hier ganz allein?"

,,Ich habe gesiegt. Das war vielleicht eine Schlacht! e2 - e4; Sg8 - f6 ...,"

,,Schon gut", sagte der Baum. ,,Ich verstehe nicht soviel von Schach."

,,Das habe ich mir gedacht." Der König stellte sich auf die Zehenspitzen.

,,Darf ich mitspielen?" fragte der Baum.

,,Bäume kommen beim Schach nicht vor."

Der König, eine von Marcel Duchamp in Buenos Aires geschnitzte Schachspielfigur
(c) Succession Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2002
Der Zeichner schmunzelte. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Er begann ein neues Skizzenblatt, auf dem er den König von e1 auf f2 setzte.

,,Hör mal", sagte der Baum gekränkt. ,,Bilde dir mal bloß nichts ein auf dein Spiel. Du kannst ja immer nur einen Schritt tun. Und am Spielfeldrand ist eh Schluß für dich. Geh doch mal auf h9, Angeber!"

Das brachte den Maler auf eine Idee: Er verlängerte das Schachbrett wie einen Zopf immer weiter und durch den ganzen Park.

,,Von wegen." Der König sah auf die neuentstandene Fläche. ,,Komm, wir gehen."

Und die beiden gingen den Feldern nach quer durch den Park. Und immer, wenn der Baum einen Schritt getan hatte, wartete er auf den König, damit der nachkam. So bewegten sie sich Richtung Küste.

Als der König h472 erreicht hatte, begann es langsam wieder Tag zu werden, denn der Maler war ein Spezialist für Sonnenaufgänge.

,,Ich kann überall hinlaufen!" rief der König. ,,Ich bin mehr als nur eine Figur!"

Der Maler grinste.

,,Schau dich mal um", sagte der Baum, der sehr schweigsam geworden war.

Da merkte der König, daß der Teppich von Feldern hinter ihm verschwunden war. Er stand, wie früher, in einem Quadrat von acht mal acht Feldern. Allerdings nicht mehr im Park, sondern mitten auf dem Gehweg an der Küstenstraße. Die erste Straßenbahn bog um die Ecke.

,,Bring mich zum Meer!" forderte der König.

,,Aber du kannst doch nicht schwimmen."

,,Natürlich kann ich schwimmen. Wozu bin aus Holz?"

Man Ray und Marcel Duchamp bei einer Schachpartie
Doch als der Baum sich herunterbeugte, um den König in seine Krone aufzunehmen, gab ihm der einen Schubs, so daß der Baum quer über das Bahnhofshäuschen flog.

Der Baum konnte sich aus eigener Kraft nicht aufrichten. Aber anstatt ihm zu helfen, lachte der König ihn aus.

Da klingelte es. Der Maler stand auf und ging zur Tür. Wie jeden Donnerstag kam Marcel vorbei, zum Schachspielen.

,,Nur einen Moment noch." Der Maler ging in sein Arbeitszimmer zurück. ,,Bau du schon mal auf."

Und er zeichnete noch schnell ein paar bunte Wolken und die Küstenlinie und ein Häuschen, das aussah wie ein kleiner Bahnhof.

,,Der weiße König fehlt!" rief Marcel vom Salon aus.

,,Verdammt!" fluchte der Maler und sah auf seinen Skizzenblock.

Ein Mann war aus der Straßenbahn ausgestiegen. Der hatte die Figur auf der Straße gesehen und sie kurzerhand mitgenommen.

Der Maler kam in den Salon gestürmt.

,,Los", sagte er zu Marcel, ,,den kriegen wir noch!"

April 94

Weiterführende Texte und Hyperlinks:

Links zu Man Ray:

Links zu Marcel Duchamp:


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