Wasserbestattung

Hilchenbach, das mußte es sein.

Siegfried stieg vorsichtig die Stufen vom Zug auf den Bahnsteig und reihte sich in den schmalen Fluß von Reisenden, die dem Ausgang zustrebten.

Josef Sudek: Deserted, 1956
Oh, Entschuldigung. Jemand hatte ihm seinen Koffer in die Wade gehackt.

Ein herrlicher Tag. Sieht Gertrud ähnlich, daß sie sich einen solchen Tag für ihre Beerdigung ausgesucht hat.

Er lächelte, kam sich etwas skurril vor in dem schwarzen Anzug. Es wäre sicher nicht in ihrem Sinn gewesen, wenn er heute peinlich berührt oder gar deprimiert gewesen wäre.

Dem Taxifahrer zeigte er die Karte, die ihm Brigitte aufgemalt hatte.

Der Taxifahrer sah kurz auf den schwarzen Anzug und schüttelte den Kopf.

Siegfried räusperte sich. Gut möglich, daß das Ganze nur ein gut inszenierter Gag war. Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt hielt die Taxe vor einem kleinen Waldstück.

"Der Schmetterlingstümpel liegt so hundert Meter da runter." Der Taxifahrer deutete vage in die Bäume.

"Äh, ja, vielen Dank auch."

Siegfried gab ein Trinkgeld und stieg aus.

Die morastige Wiese gab unter seinem Stock nach. Eine Nachtigall sang aus dem Wäldchen, und Siegfried ertappte sich dabei, wie er ebenfalls anfing zu pfeifen.

Er war gespannt. Vermutlich würde alle da sein, auch Gertruds neue Familie aus Amerika.

Schon bald konnte er hinter den Bäumen einen Tümpel erkennen, ein paar Schritte weiter, und er sah die Trauergesellschaft, die am Ufer ein Picknick veranstaltete.

Wo war Gertrud?

"Ah, Siegfried, schön, daß du auch kommst."

Brigitte.

"Wir warten noch auf die Amis."

Ein Baseball flog aus dem Wald, ein kleiner Junge in kurzen Hosen und Turnschuhen rannte hinterher. In kurzem Abstand folgte der Rest der Sippe, gutgelaunt, der Vater mit einem karierten Hemd und Schirmmütze. Ein Zitronenfalter machte die Idylle perfekt. Ein älterer Herr erhob sich vom Picknicktisch, mit dem Glas in der Hand.

"Nun, ich denke, es ist in unser aller Sinne, wenn wir beginnen."

Siegfried bekam ebenfalls ein Glas Cognac in die Hand und von dem Mann mit der Schirmmütze einen freundlichen Klaps auf die Schulter:" Hey, man, what’s up."

Der ältere Herr war unschwer als Pfarrer zu erkennen. Er hatte schmale Schultern und ein sonnengegerbtes Gesicht mit einer Knollennase.

Gertrud hatte immer gesagt: Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes.

Da die Trauergesellschaft noch immer ein wenig planlos herumstand, ging der Pfarrer mit gutem Beispiel voran die Uferböschung hinab und watete ein paar Schritte ins Wasser.

"Darf ich Ihnen behilflich sein?"

Die Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, reichte Siegfried ihren Arm und zog ihn gen Tümpel.

Jetzt erst ging es Siegfried auf, was Brigitte mit "Wasserbestattung" gemeint hatte. Etwa in der Mitte des Tümpels schwamm ein ferngesteuertes Boot mit einem Kreuz darauf. Der Pfarrer watete zielsicher darauf zu. Zum Glück war das Wasser nur etwas über knietief.

Mit gelben Birnen und voll mit wilden Rosen hing das Land in den See. Und holde Schwäne tunkten ihr Haupt ins heilignüchterne Wasser.

Vor Siegfried platschte ein Junge mit einem Stars-and-Stripes-T-Shirt. Das Wasser ging ihm bis zu den Oberschenkeln. Neben ihm sein Bruder war noch kleiner und versuchte zu schwimmen.

Brigitte trug ihr Cello über dem Kopf.

Schließlich waren alle in der Mitte des Tümpels versammelt und bildeten einen Halbkreis um das Boot mit dem Kreuz.

Siegfried riskierte einen Blick unter die Wasseroberfläche.

Da lag sie, Gertrud. Recht entspannt sah sie aus und auch nicht aufgedunsen. Knapp über ihrer Oberlippe schwamm ein Fischlein. Typisch Gertrud. Hat schon wieder Freunde gefunden.

Indes hob der Pfarrer zu seiner Rede an.

"Liebe Trauergäste. Es freut mich sehr, daß Sie alle den Weg hierher gefunden haben, um unserer geliebten Gertrud die letzte Ehre zu erweisen. Einige sind ja sogar über den großen Teich gekommen."

Den Amerikanern entging dieses Wortspiel, sie sprachen kein Deutsch.

"Tja, nun also, wir übergeben Gertruds Körper den ... , ja, wem eigentlich?"

Der Junge mit dem Stars-and-Stripes-T-Shirt blies gelangweilt die Backen auf.

"Den Fröschen", rettete Brigitte die Situation.

Siegfried versuchte Blickkontakt mit Gertrud aufzubauen, doch eben als er kurz davor war, segelte genau vor seinen Augen eine Kippe ins Wasser.

Siegfried war stocksauer. Er hatte immer gedacht, daß das amerikanische Volk geschlossen aufgehört hätte zu rauchen, und jetzt das.

Als sich die Wasseroberfläche wieder geglättet hatte, waren Gertruds Augen in eine andere Richtung gekippt.

Der Pfarrer erzählte inzwischen Anekdoten aus Gertruds Leben, die Siegfried alle schon kannte.

Brigitte nieste."Ich hol mir noch was an den Nieren, wenn der nicht bald Schluß macht."

"Pst." Siegfried sah sie strafend an.

Schließlich fand der Pfarrer doch noch ein Ende, und Brigitte stellte ihr Cellospiel dankenswerterweise sofort ein, als ihr gleich das erste Tremolo absoff.

Über allen Wipfeln kehrte Ruhe ein, die Sonne ging unter, und die Zeremonie war für alle Beteiligten über die Bühne gegangen.

Bevor er ging, drehte sich Siegfried noch einmal nach der Toten um.

Und Gertrud, wie er vermutet hatte, lächelte.

April 94


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