Octavio Paz

Der Surrealismus
(Essays 2, Frankfurt/Main 1980)

Der Mensch ist ein Wesen, das imaginiert, und selbst seine Vernunft ist nur eine
der Formen dieses ständigen Imaginierens. Im Grunde heißt Imaginieren: über sich hinausgehen, sich projizieren, sich ständig überschreiten. Als ein Wesen, das imaginiert, weil es begehrt, ist der Mensch fähig, die ganze Welt in ein Bild seines Verlangens zu verwandeln. Und deshalb ist er ein liebendes Wesen, er sehnt sich nach einer Präsenz, die das lebendige Bild, die Verkörperung seines Traums ist. Von Verlangen getrieben, trachtet er danach, mit diesem Bild zu verschmelzen und sich seinerseits in ein Bild zu verwandeln.Ein Spiel von Spiegeln, ein Spiel von Echos, Körper, die sich unter der beständigen Sonne der Liebe unablässig auflösen und neu erschaffen. Die Maxime von Novalis: "Der Mensch ist Bild", hat der Surrealismus sich zu eigen gemacht. Aber auch das Umgekehrte ist wahr: Das Bild verkörpert sich im Menschen. (S. 261/62)

Von Anfang an unterscheidet der Surrealismus nicht zwischen der poetischen Erkenntnis der Wirklichkeit und deren Verwandlung: Erkennen ist ein Akt, der das, was erkannt wird, verwandelt. Die poetische Aktivität ist wieder ein magischer Vorgang. (S. 263)

Nie können wir den Gegenstand an sich sehen; immer ist er geformt von der Hand, die ihn streichelt, ihn preßt oder ihn ergreift. Der Gegenstand, der sich in seiner lächerlichen Wirklichkeit eingerichtet hat wie ein König auf einem Vulkan, verändert auf einmal seine Form und verwandelt sich in etwas anderes.
Das Auge, das ihn betrachtet, macht ihn weich wie Wachs; die Hand, die ihn berührt, formt ihn wie Ton. Der Gegenstand wird subjektiviert.

Und so beginnt eine umfassende Verwandlung der Wirklichkeit. Der surrealistische Gegenstand wird als Kind des Verlangens geboren. (S. 264/65)

Subversion der Wirklichkeit: Traum, Tagtraum, Wahnsinn, Gegenständen
ihren Platz nehmen und sie woanders hinstellen : "Die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch".

Der destruktive Charakter dieser Verfahren ist nur ein erster Schritt; ihr Endziel ist es, die Wirklichkeit zu entblößen, sie ihres äußeren Scheins zu berauben, damit sie am Ende ihr wahres Gesicht zeige. Das Sein verbirgt sich gern: die Poesie will es wieder zutage treten lassen. Auf irgendeine Weise, in einem günstigen Augenblick, steigt die verborgene Wirklichkeit aus ihrem Grab von Gemeinplätzen und stimmt mit dem Menschen überein. In diesem paradiesischen Augenblick sind wir das erste und einzige Mal, für einen Augenblick und für immer, wirklich. Sind wir sie und wir. Durch den Humor vernichtet und von der Imagination neu erschaffen, stellt sich die Welt nicht mehr als ein Horizont von brauchbaren Dingen dar, sondern als ein Magnetfeld.
Alles ist lebendig: alles spricht oder gibt Zeichen von sich; die Gegenstände und die Worte verbinden oder trennen sich gemäß bestimmten geheimnisvollen Winken. (S. 265/66)

Wenn das Objekt subjektiviert wird, löst das Ich sich auf.
Rimbaud: "Ich ist ein anderer."
Mit einem Abstand von mehr als zweitausend Jahren entdeckt die abendländische Poesie etwas, das die zentrale Lehre des Buddhismus ausmacht:
das Ich ist eine Täuschung, ein Schwarm von Enmpfindungen, Gedanken und Begierden. (S.266/67)

Worauf es also ankommt, ist, uns dieser fiktiven Persönlichkeit zu entledigen, die die Welt uns aufzwingt oder die wir uns selbst geschaffen haben, um uns gegenüber der Außenwelt zu behaupten. Das Ich erstickt uns und verbirgt uns unser wahres Sein. Das Ich negieren heißt nicht, das Sein negieren.
Der Verzicht auf die persönliche Identität impliziert nicht einen Verlust des Seins, sondern gerade seine Wiedererlangung. Der Dichter ist jetzt alle Menschen. Die Natur läßt ihre Masken fallen und zeigt sich so wie sie ist.

Der Surrealismus will den alten Gegensatz zwischen dem Ich und der Welt, dem Innen und Außen aufheben, indem er Dinge schafft, die innen und außen zugleich sind. (S. 269)

Das wahre Thema unserer Zeit – und aller Zeiten – ist das der Wiedererlangung der Unschuld durch die Liebe. (S. 274)

Poesie und Liebe sind ähnliche Akte. Die poetische Erfahrung und die Liebeserfahrung öffnen uns die Türen zu einem elektrischen Augenblick. Dort ist die Zeit keine Abfolge; gestern, heute und morgen verlieren jede Bedeutung:
es gibt nur ein Immer, das auch ein Hier und Jetzt ist.

Das Gedicht ist wie die Liebe ein Akt, bei dem Geborenwerden und Sterben,
diese beiden sich widersprechenden Extreme, die uns zerreißen und die menschliche Natur so prekär machen, sich verbinden und eins werden. Lieben heißt sterben, haben unsere Mystiker gesagt; aber auch, und eben darum, geboren werden. Der unerschöpfliche Charakter der Liebeserfahrung ist nicht verschieden von dem der Poesie. René Char schreibt: "Das Gedicht ist die verwirklichte Liebe des Verlangens, das Verlangen bleibt." (S. 275)

Novalis hat gesagt: "Die Poesie ist die natürliche Religion des Menschen."
Getreu dieser Tradition sucht der Surrealismus ein neues außerreligiöses Sakrales, das sich gründet auf die dreifache Achse: Freiheit, Liebe und Poesie.
(S. 278)

Surrealismus:
Einladung zum inneren Abenteuer, zur Wiederentdeckung unserer selbst; und ein Zeichen des Einvernehmens, dasselbe, das uns durch die Jahrhunderte hindurch die großen Mythen und die großen Dichter geben. Dieses Zeichen ist
ein Blitz: bei seinem aufzuckenden Licht werden wir ein wenig von dem Geheimnis unserer Natur schauen. (S. 278/79)

México, 1954


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